Erziehung

Schämt euch ruhig – Interview

„Wir können unsere Kinder von klein auf dabei unterstützen, Unperfektheiten zu akzeptieren, indem wir ihre Sorgen und Ängste ernst nehmen und Verständnis zeigen!“ - Die klinische Psychologin Tanja Kieselbach erzählt, warum Scham oft ein Tabuthema ist, worüber wir uns schämen und wie Scham uns schaden, aber auch nützen kann.

Warum fällt es Menschen so schwer, ihre verletzliche Seite zu zeigen?
Tanja Kieselbach: Scham ist wie eine Maske, die man sich anziehen kann, wenn man vor allem Schuld, Reue oder Unbehagen empfindet. Sie versteckt mein wahres Gesicht und vor allem auch sozial unerwünschtes Verhalten. In der Regel agieren wir so, wie es die Mehrheit der Menschen für angemessen empfindet, weil wir sozial nicht abgelehnt, sondern gemocht und geliebt werden möchten.

Worüber schämen wir uns denn typischerweise?
Kieselbach: Scham ist ein sehr individuelles Gefühl. Manche Menschen schämen sich allein beim Gedanken sich nackt zu zeigen, andere empfinden Scham, wenn Sie vor der Klasse ein Referat halten, wieder andere, wenn Sie einfach nur das Wort „Nein“ laut aussprechen sollen. Abgesehen von der Körperscham ist Scham antrainiert bzw. von der Umwelt abhängig.
Es handelt sich also um Gefühle, wie existentielle Scham, Idealitätsscham oder Kompetenzscham.

Inwiefern kann Scham im Zwischenmenschlichen schädlich sein?
Kieselbach: Der Selbstbewusste kann ganz einfach den weniger Selbstbewussten beeinflussen. Wer immer gesagt bekommt: „Du kannst nichts!“ oder „Schau dich an, mit deinen krummen Füssen!“, bekommt bereits im Kindesalter ein minderwertiges Selbstwertgefühl eingebläut. Hört man hingegen von klein auf stets: „Du bist aber stark und mutig!“ oder „Du bist schön und schlau und alle mögen dich!“, wirst du später vor Stolz und Selbstbewusstsein nur so strotzen. Dieses antrainierte Selbstbewusstsein kann freilich leicht manipulativ eingesetzt werden.

Wie kann Scham unser Miteinander stärken?
Kieselbach: Wir können auf jeden Fall bereits unsere Kinder dahingehend unterstützen, Unperfektheiten zu akzeptieren, indem wir ihre Sorgen und Ängste ernst nehmen und Verständnis zeigen. Auch wenn es für uns Erwachsene oft Banalitäten sein mögen, bedeuten sie für unsere Kinder die Welt. Offene, transparente Gespräche führen, Aufklärungsarbeit betreiben. Ich denke, das sind wichtige Schritte in die richtige Richtung.

 

„Anders sein oder Schwäche werden in unserer Gesellschaft oft als Problem gesehen!“
Tanja Kieselbach
Psychologin und Persönlichkeitstrainerin
www.psychologin-kieselbach.at

Wie lernen wir von klein auf, unsere Mitmenschen in ihrem Wert bestehen zu lassen, um
Bloßstellung und Beschämung zu vermeiden?
Kieselbach: Ist es für Eltern wichtig, dass ihre Kinder selbstbewusst aufwachsen, NEIN sagen lernen, zu sich und ihrem Körper zu stehen, Fehler zu akzeptieren und Unterschiede zwischen Menschen zu tolerieren, dann lernen Kindern automatisch mit Gefühlen der Bloßstellung und Beschämung adäquat umzugehen. Vorbereitung, Aufklärung und Transparenz sind hier die Schlüsselworte.

Was können wir gerade Pubertierenden mitgeben, damit sie die eigenen Unzulänglichkeiten akzeptieren?
Kieselbach: Je früher ein transparenter und aufklärender Umgang im Familienverband gehandhabt wird, desto eher verinnerlichen Kinder gewisse Grundhaltungen und Werte. Ehrlich zu bleiben, auch unangenehme Themen innerhalb der Familie zu besprechen kann helfen, dass Kinder oder Jugendliche sich selbst so annehmen wie man ist und den Fokus auch auf Positives legen.

Warum tun wir uns mit Schwächen so schwer?
Kieselbach: Anders sein oder Schwäche werden in der Gesellschaft oft als Problem gesehen. In Wahrheit haben wir einfach Angst davor, wie wir mit dem „Anderssein“ umgehen sollen und schalten daher auf Vermeidung. Das wiederrum löst soziale Ablehnung beim Betroffenen bzw. eben Scham aus. Weil der andere das Gefühl vermittelt bekommt, nicht akzeptiert zu sein. Scham nicht als Zeichen von Schwäche zu sehen, hängt stark vom eigenen Selbstwert und vom eigenen Selbstkonzept ab. Das hat vor allem damit zu tun, wie Menschen sich selbst sehen und beschreiben und welche Auswirkungen diese individuellen Bilder von sich selbst auf ihr Handeln, Denken und Fühlen haben

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