Die Essenz der Entfaltung
Druck, Anpassung, Belehrungen und das ständige Unterdrücken kindlicher Bedürfnisse. Viele Eltern spüren, dass Erziehung und Bildung oft wenig mit dem zu tun hat, was Kinder wirklich brauchen. Welche Weichen müssen also für die Entfaltung junger Menschen gestellt werden, damit ein glückliches und erfülltes Leben gelingen kann? Ein Plädoyer für das Kindsein.
„Lebe so, wie du denkst. Sonst wirst du irgendwann so denken, wie du lebst.“
Josè Mujica
Sitz ordentlich, bleib ruhig sitzen, sei nicht laut oder tob nicht herum! Immer wollen wir Kinder so haben, wie sie von Natur aus gar nicht sind. Neugierde, der Drang, sich auszuleben, sich zu bewegen und die Welt mit allen Sinnen auszuloten werden mittels Belehrungen, Befehlen, Druck und Anpassung oft frühzeitig zunichte gemacht. Oft so einschneidend, dass die Freude am Spielen, Erforschen und Lernen nach und nach verblasst. Und obwohl die meisten von uns diese Zwänge und Einengungen als Kind verabscheut haben, hat sich bis heute kaum etwas am ganzen „Zurechtbiegungsapparat“ geändert.
Was all die Befehle mit uns machen
Denn Fakt ist, dass Kinder auch gegenwärtig in der Regel so zu sein haben, wie Erwachsene es gerne hätten. Erziehung besteht also so gesehen darin, Kinder als Geschöpfe anzusehen, die im Grunde ab der Geburt entsprechend den Bedürfnissen der aktuellen Welt geformt werden müssen. Doch woher kommt denn eigentlich dieser Ansatz, dass Erziehung darauf abzielen soll? Was ist eigentlich die aktuelle Welt? Was macht all das Formen und Biegen mit uns und den jungen Menschen? Woher kommen all die Belehrungen, die in der Erziehung und auch in der Schule so stark zum Alltag gehören, dass wir glauben, diese Aufforderungen selbst seien Erziehung?
Gerald Hüther ist einer der bekanntesten Neurobiologen in Deutschland und beschäftigt sich seit Langem mit den Auswirkungen von Erziehung und Bildung auf das menschliche Wohlbefinden. Denn eines sei vorausgeschickt: Wohl kaum jemand wird bestreiten, dass es im Leben letztendlich darum geht, sich wohl in seiner Haut zu fühlen. Das auszuleben, was in einem steckt, seine Potentiale zu entfalten, um glücklich und zufrieden zu sein. Insofern müssten Erziehung und Bildung genau diese Zielsetzung haben und diese Entfaltung ermöglichen. Was gegenwärtig in den meisten Schulen und durch vielfach praktizierte Erziehungsmethoden passiere, schieße laut Hüther jedoch weit an diesem Ziel vorbei. Angesichts des teils immensen Drucks, der auf’s Kindsein heute lastet, spüren auch viele Eltern, dass Erziehung oft wenig mit dem zu tun hat, was Kinder wirklich brauchen. Im Fokus scheint vielmehr das zu stehen, für was sie einmal gebraucht werden. Erziehung und Bildung basieren laut Hüther bislang auf Belehrung, Druck und Anpassung. Kinder seien ständig dazu gezwungen, ihren natürlichen Gestaltungstrieb zu unterdrücken und dazu angehalten, sich anzustrengen, um die Erwartungen und Bedürfnisse anderer Menschen zu erfüllen.
„Das führt dazu, dass sich viele Kinder etwa schon in der ersten Schulklasse zwingen, ihre angeborene Entdeckerfreude und Gestaltungslust und ihre natürlichen Bedürfnisse wie Bewegung, Kreativität und Selbstwirksamkeit so lange zu unterdrücken, bis sie verkümmern“, sagt Hüther. Der Neurobiologe spricht diesbezüglich gar von einer Verletzung des Grundbedürfnisses nach Wachstum, Autonomie und Freiheit. Und er betont in zahlreichen Bildungsdebatten immer wieder, dass wir mit unserer typischen Vorstellung von Erziehung und Bildung eben nicht die Voraussetzungen dafür schaffen, Kinder tatsächlich zu glücklichen, empathischen und selbstreflexiven Menschen heranreifen zu lassen. Kurzum, dass junge Menschen sich so entfalten könnten, das letztendlich ein glückliches Leben gelingt. Schaut man sich im Erziehungs- und Bildungsfeld um, scheint die Zielsetzung tatsächlich weit häufiger dahin zu gehen, dass wir die Kinder bewusst oder unbewusst zu dem formen, was die Wirtschaft offenbar am meisten braucht. Brave Konsumenten nämlich, „perfekte Pflichterfüller und Bürger, die auf Knopfdruck funktionieren“.
Gerald Hüther, Neurobiologe
Was ein gelungenes Leben ausmacht
Typisches Karrieredenken unseres Konsum-Kapitalismus gehe oft einher mit dem Streben nach Macht, Einfluss und Bedeutung. Für Hüther offenbart sich darin nichts anderes als das Gefühl „bedürftiger“ Menschen, die das Gefühl haben, nicht bedeutsam genug zu sein. Mit der Folge, dass sie sich ständig Bedeutung verschaffen müssen. Nicht umsonst lasse sich eine Generation perspektivloser, unzufriedener oder teils auch ausgebrannter Individuen beobachten, der die Freude abhandengekommen ist, etwas zu gestalten. Menschen, die nur noch arbeiten, um mit dem, was sie leisten, so etwas wie Anerkennung, Entlohnung oder eben den nächsten Karriereschritt zu erreichen. Dabei lehrt uns die Hirnforschung, dass in der modernen Welt des 21. Jahrhunderts, keinesfalls reines Ausführen oder Abarbeiten von Befehlen, sondern ganz andere Fertigkeiten maßgeblich für ein erfülltes Leben sind. Dazu gehören zum Beispiel Kompetenzen wie Handlungsplanung, Innovationsgeist, Impulskontrolle, Frustrationstoleranz, aber auch Verantwortungsgefühl, Empathie, die Fähigkeit zur Selbstreflexion, Offenheit für neue Erfahrungen und Beziehungen. All das könne dazu befähigen, dass Menschen jene Potentiale voll entfalten, die tatsächlich in ihnen stecken. Denn natürlich sollen Erfüllung und Sinnhaftigkeit einher gehen mit dem Vorankommen, dem kompetenten Meistern großer Herausforderungen – und insofern geht’s im Leben freilich auch um Leistung, wohlgemerkt im Sinne eines selbstwirksamen und freudvollen Gestaltens des beruflichen wie privaten Alltags.
Gerald Hüther, Neurobiologe
Kinder als Objekte unserer Vorstellungen
Wer von klein auf zu wenig Freiraum hat, um selbstständig und eigenverantwortlich etwas zu gestalten, der verliere irgendwann auch die Lust daran. Genauso am Lernen. Und später am Arbeiten. „Wenn wir nur Erwartungen anderer erfüllen und versuchen so zu sein wie man uns haben will, machen wir uns selbst auch zu Objekten“, meint Hüther. Da sei dann nichts mehr lebendig. Die Möglichkeit zur Entfaltung verbaut. Negative Beispiele dafür gibt es laut Gerald Hüther viele. Überfürsorgliche Eltern etwa, bei denen das Kind nichts selber entscheiden kann, weil Mama und Papa dauernd wie ein Helikopter drüber fliegen. Oder Eltern, die den Frust ihrer Kinder nicht aushalten und infolgedessen jeden Wunsch von den Lippen lesen, damit Friede herrscht. Oder auch Eltern, die permanent mit Belohnen und Bestrafen beschäftigt sind, um sich so die Kinder nach ihren Vorstellungen zurecht zu biegen. Oder das Praktizieren von Erziehungsmethoden, die Kindheit nur als ein peinliches Vorstadium des Lebens betrachten, das es möglichst schnell zu durchlaufen gilt. Darunter fallen auch Eltern, die Kinder ständig drillen, um ihnen möglichst schnell das Kindsein abzugewöhnen und sie zum Objekt ihrer Vorstellungen und Wünsche machen. Häufig von der Angst getrieben, dass ihr Kind nicht die erforderlichen Leistungen erbringt, wird die kindliche Entfaltung oft unter der enormen Aufgabenlast seitens der Eltern, die es wohl nur gut meinen, schlichtwegs erdrückt. „Gedrückt und geschoben“ werde schließlich auch in den Bildungseinrichtungen, wenn es mittels zweckgebundener Pädagogik oft schon ab dem Schuleintritt nur darum geht, sich für die nächste Stufe bzw. für den Job vorzubereiten.
Kindern gerecht werden
Der Spielraum und die Freiheit, sich zu entfalten, brauche laut Gerald Hüther freilich gewisse Rahmenbedingungen und sei nicht zu verwechseln mit dem Ruf nach anarchischen Verhältnissen. Vielmehr gilt es, die eigenen Grenzen ebenso wahrzunehmen wie die der anderen. Das wiederum funktioniert nur in liebevollen Beziehungen, die auf einem empathischen Miteinander beruhen. Indem wir Kinder groß ziehen, die sich verstanden fühlen, die sich gesehen fühlen, die glauben, dass sie gut sind, wie sie sind und schlichtweg Kind sein dürfen. Wenn die Freude am Spielen, Lernen und Erforschen grundsätzliche Voraussetzungen für ein glückliches Leben sind, sollten wir uns daher immer wieder folgende Fragen erlauben und auch danach handeln: Welche Person will ich sein? Wofür will ich dieses Leben benutzen? Wie kann ich schwierige Aufgaben kompetent meistern? Wie bin ich imstande, meine Bedürfnisse zu erkennen und erkennbar zu machen? Wie etwa erkennen, was mir gut tut und wann ich hingegen am Limit bin? Wie schaffe ich es, meine Hoffnungen und Wünsche niemals aufzugeben? Kurzum, Eltern und Pädagogen sollten sich damit auseinandersetzen, was Kinder wirklich für ein gelungenes Leben brauchen. Was es also bedeutet, nicht immerzu den Plänen, Vorgaben oder Erwartungen von außen gerecht zu werden, sondern schlichtweg den uns anvertrauten Kindern.
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