Sei eine Petze!
Andere verraten, Schuld zuweisen und ungefragt Erwachsene auf den Plan rufen – mit diesen Verhaltensweisen ernten Kinder häufig Unwillen und Unverständnis. Dabei ist Petzen besser als sein Ruf und hat so gut wie nie nur mit böser Absicht zu tun.
„Der Simon haut mich immer. Aber ich sag’s nicht. Schließlich bin ich keine Petze.“ Wenn die siebenjährige Finja so auf die Frage nach ihrem Schulalltag antwortet, kommt man nicht umhin kurz zu stocken. Ist das jetzt gut? Warum ist die Angst vor dem Label „Petze“ eigentlich so groß? Und warum steht das Schweigen und der Schutz des rüpeligen Banknachbars sozial offenbar über dem Impuls Hilfe zu holen? So viel steht fest: Petzen hat einen schlechten Ruf. Schon Kleinkindern wird häufig signalisiert, dass es uner- wünscht ist, wenn sie Erwachsene über das Fehlverhalten anderer informieren.
„Sei keine Petze“ heißt es da in den meisten Fällen und nicht selten wird das berichtende Kind mit einem augenrollendem „regelt das untereinander“ abgefertigt.
Dabei steckt hinter diesem Verhalten in der Regel keine böse Absicht. „Auch, wenn ich als Erwachsene eine Situation völlig anders einschätze als das Kind, das zu mir kommt, sollte ich es in seiner Wahrnehmung ernst nehmen“, gibt Michaela Auer-Ottenschläger zu bedenken. Denn die Familienberaterin und Pädagogin kennt aus ihrem Arbeitsalltag eine ganze Palette an durchwegs nachvollziehbaren Gründen, Erwachsene zu involvieren. „Das Kind will vielleicht Hilfe holen, weil es nicht weiter weiß. Vielleicht sucht es nach Aufmerksamkeit und will gesehen werden oder es hat ein starkes Bedürfnis nach Gerechtigkeit sowie Fairness und wünscht sich, dass die vom Erwachsenen wieder hergestellt wird. Das ist wirklich ganz individuell, aber es gibt immer einen guten Grund.“
Regeln verstehen lernen.
Dabei macht das Alter der Kinder in der Sache einen großen Unterschied. Gerade bei kleineren Kindern geht es dabei häufig darum, Regeln und Strukturen zu lernen und zu wiederholen. Denn das Verständnis für soziale Normen und Werte festigt sich etwa um das dritte Lebensjahr. Beobachten sie in dieser Zeit Verhaltensweisen, die nicht zu dem passen, was sie als richtig abgespeichert haben, gehen sie dem eben nach. „Dabei geht es keines- falls darum ungut zu sein, im Grunde ist es mehr ein nachfragen als Verrat“, so Auer-Ottenschläger.
Kinder und Moral.
Das Petzen hilft Kindern dabei ihre Moralvorstellungen zu festigen und ist deswegen ganz typisch für die kleinkindliche Entwicklung. Das ist auch das Ergebnis einer ganzen Reihe an Studien zum Thema. Eine Untersuchung aus Nord- irland unter 3- bis 4-Jährigen belegte etwa, dass das Mitteilen von Verstößen innerhalb der Gruppe an die Pädagog:innen für kleine Kinder ganz selbstverständlich ist, ebenso wie unter Geschwistern. Darüber hinaus wurde beobachtet, dass schon Dreijährige darauf reagieren,
wenn fremdes Eigentum zerstört wird und das melden.
Petzen gehört zum Alltag, und zwar sowohl, wenn sich das Kind selbst als Opfer eines bestimmten Verhaltens sieht als auch, wenn es Normverletzungen beobachtet, die es nicht persönlich betreffen. Denn auch, wenn das Weitersagen gemeinhin häufig als ehrenrührig angesehen wird, ist es in den allermeisten Fällen genau andersherum gemeint. Dazu passt, dass beim Petzen so gut wie nie gelogen wird, immerhin 90 Prozent der berichteten Vergehen entsprechen der Wahrheit. Und es sind noch weitere inter- essante Zahlen aus den Studien abzulesen: Auch, wenn es auf Erwachsene manchmal ganz anders wirkt, kommen Kinder im Schnitt nur in jeder 15. Situation, in der ihnen subjektiv Unrecht wiederfährt, zu den Eltern. Im Gegenzug werden sie für das Petzen im Schnitt aber zehnmal häufiger zurechtgewiesen als für andere Vergehen, etwa Lügen.
Geheimnisse bewahren.
Ob es auch damit zusammenhängt, dass
die Petz-Frequenz mit zunehmendem Alter abnimmt, ist schwer zu sagen. Fest steht, dass ältere Kinder das Petzen stärker ablehnen als jüngere Kinder und dass sich die Beweggründe ändern. Wenn Finja aus unserem Eingangsbeispiel nun also zögert, der Lehrerin von Simons Verhalten zu erzählen, liegt das nicht daran, dass sie sich vor deren Reaktion fürchtet, sondern vor jener von Simon und den Klassenkolleg:innen.
„Ab dem Schulalter geht es oft um das soziale Gefüge innerhalb einer Gruppe“, weiß auch Auer-Ottenschläger. Geheimnisse zu bewahren wird dann zu einer Währung im Spiel um Freundschaften und Zugehörigkeiten – sie zu verraten kostet Punkte. Umso wichtiger ist es, den Kindern schon früh zu vermitteln, dass sie immer zu den Eltern kommen können, sie dabei ernstgenommen werden und ihnen zugehört wird. „Schulkinder haben schon ein gewisses Wertefundament ausgebildet, das ihnen im Idealfall dabei hilft“, so Auer-Ottenschläger. Vor allem, wenn man sich auch innerhalb der Familie regelmäßig darüber austauscht, was man für sich behalten kann und was eben nicht. Auer-Ottenschläger: „Gute Geheimnisse machen ein gutes Gefühl. Ist das nicht der Fall, sollte ich sie brechen.“ Und das erfordert manchmal Mut. Der Mythos von der Petze hilft dabei sicher nicht.
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