Ich kann das alleine!
Kinder brauchen Wurzeln und Flügel. Doch dem Freiheitsdrang der Kinder stehen oft die Ängste der Eltern im Weg. Wie funktioniert die Sache mit dem Loslassen? Was soll man die Kinder tun lassen, um sie zur Selbstständigkeit zu erziehen?
Irgendwann ist es so weit. Das dem Kinderwagen entwachsene Kind will auf einen Baum klettern. Auf Zäunen balancieren. Am Bach auf Steinen herumtollen. Vom Dreiradler aufs Fahrrad umsatteln und weitläufige Runden drehen. Die Stiegen alleine hoch- und runterstapfen. Mit den größeren Kindern beim Laufen mithalten. Das Joghurt in die Schale mit dem Frühstücksmüsli kippen. Hose und Schuhe selber anziehen. Alleine aufs Klo gehen. Bei Freunden übernachten. Und überhaupt: Mama und Papa stehen mehr und mehr im Wege, wenn es darum geht, die nächste Umgebung auf eigene Faust zu erkunden. Weil der Nachwuchs am liebsten alles nur mehr alleine machen will.
Für Eltern und Bezugspersonen sind das mitunter recht turbulente Zeiten. Einerseits will man den Bewegungsdrang und damit die natürliche Entwicklung und Selbstständigkeit des Kindes fördern. Andererseits kommen täglich neue Sorgen hinzu: bricht sich die Fünfjährige jetzt wohl keinen Haxen, wenn sie Ast für Ast Richtung Baumkrone kraxelt? Stolpert der Dreikäsehoch nicht kopfüber die Treppe hinunter, wenn er Mamas Hand ausschlägt? Oder wie wird der Esstisch ausschauen, wenn das Essen nun von Kindeshand auf die Teller wandert. Vom Klo ganz zu schweigen, wenn sich Dreijährige fortan Toilettenpapier und Bürste zu eigen machen.
Lernen und Begreifen als einziges Erfahren und Sichbewegen
Betrachtet man die Entwicklung des Kindes generell, so weiß man aus der Forschung, dass beim Nachwuchs bereits während der Schwangerschaft im Mutterleib rege Bewegung herrscht. Nach der Geburt vollziehen sich rasante Entwicklungsschritte im motorischen Bereich. So ist das erste Lebensjahr ausgefüllt mit Bewegungsfortschritten wie Kopfheben, umdrehen, hinsetzen, greifen, stehen, gehen. Bewegung und Ausprobieren sind Grundbedürfnisse des Kindes und physiologisch begründet. Ebenso dynamisch verlaufen auch die Entdeckungsreisen, auf die sich Kinder begeben, wenn sie anfangen, die Umwelt und ihre Mitmenschen um sich herum kennenzulernen. Das Kind will seine Welt begreifen im wahrsten Sinne des Wortes. Entsprechend viel wird dann auch befühlt, geschmeckt, experimentiert und erprobt. Nur so kann es Erfahrungen und Eindrücke sammeln und sich weiter entwickeln. So weit, so gut. Allerdings auch nur, so weit man das Kind lässt und es nicht daran hindert, seinem natürlichen Entdeckungsdrang nachzugehen.
Flügel sind zum Fliegen da
Zwei Dinge sollten Eltern und Bezugspersonen ihren Kindern auf ihrem Lebensweg mitgeben. So lautet jedenfalls Johann Wolfgang von Goethes berühmter und viel zitierter Spruch: „Wurzeln, solange die Kinder klein sind, und Flügel, wenn sie größer werden.“ Die Wurzeln sind jene sichere Bindung, die in zahlreichen Entwicklungsstudien nicht umsonst als Vorraussetzung für eine gesunde Persönlichkeitsentfaltung gesehen wird. Und dann sind da die Flügel. Kinder wollen ihre Flügel ausbreiten und dann schlichtweg fliegen. Da geht’s also ums Loslassen und darum, den Kindern jenen Freiraum zuzugestehen, den sie als eigenständige Individuen brauchen, um sie am Ende letztendlich ziehen zu lassen. Wie ist das aber mit diesen Flügeln? Lassen wir sie sich entfalten, sobald sie wachsen? Oder sind wir nicht öfters einmal am Stutzen und kurz halten? Weil der Ablösungsprozess schmerzhaft ist – und zwar in erster Linie auch für uns Großen? Man erinnere sich nur an die mitunter herzzerreißenden Szenen, die sich regelmäßig zu Kindergarten- und Schulbeginn in den Höfen und Garderoben abspielen. Untröstliche Kinder, die sich nicht von ihren Eltern verabschieden können. Und nicht minder so viele Mamis und Papis, die die Tränen kaum zurückhalten können, weil sie sich selber schwer von ihren Sprösslingen loslösen können. Dabei sollte Erwachsenen durchaus bewusst sein: Damit Kinder selbstständig werden können, brauchen sie Eltern, die selbst bereit sind, vom Kind loszulassen. Eltern, die Kinder dabei unterstützen, Dinge auszuprobieren. Die ihnen zutrauen, dass sie bestimmte Situationen alleine bewältigen können und ihnen gleichzeitig vermitteln, da zu sein, falls das Kind trotzdem Hilfe benötigt.
Beschützerinstinkt im Zaum halten
Leider macht uns unsere eigene Angst vor Veränderungen, vor dem Unbekannten oder Ungewohntem immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Loslassen ist keineswegs eine leichte Sache. Tatsache ist vielmehr: Viele Eltern tun sich schwer damit, den eigenen Beschützerinstinkt bzw. eigene Ängste im Zaum zu halten. Wer hat sich nicht schon einmal dabei ertappt, am Straßenrand nach dem, wenn schon nicht toten, aber zumindest verletzten Kind Ausschau zu halten, nachdem es erstmals alleine von der Schule heim, zum Fußball-Match oder in die Musikschule marschiert ist? Experten raten daher dazu, die Kinder zu ermutigen, wenn sie neue Dinge ausprobieren oder etwas zum ersten Mal machen. Dazu zählt, dass Eltern den Kindern signalisieren sollen, dass sie es den Kids auch wirklich zutrauen. Denn ob Kinder selbstbestimmt ihren Weg im Leben finden und ob sie Selbstvertrauen entwickeln, hängt erwiesenermaßen vom Verhalten der Großen ab. Sind Mütter und Väter beispielsweise selbst ängstlich und trauen ihren Kindern wenig zu, reagieren die Kinder häufig ähnlich. Bestärken Eltern ihre Kinder hingegen darin, Dinge auszuprobieren und zu wagen, werden sich diese mehr zutrauen. Freilich ist jedes Kind anders: manche Buben und Mädchen sind sehr mutig, andere etwas zögerlicher. Daher braucht auch jedes Kind etwas anderes bzw. eben Eltern, die das Wesen des Kindes erkennen und ihm das entsprechende Maß an Sicherheit und Rückhalt geben.
Balance zwischen Sicherheit geben und Loslassen, damit Kinder sich optimal entfalten können.
So kann Loslassen besser gelingen:
1. Grenzen setzen und Regeln vermitteln
Die Grenze des Zutrauens ist erreicht, wenn das Kind sich selbst überfordert und sich oder andere gefährdet. In diesen Situationen ist es wichtig, dass Eltern entsprechend handeln, indem sie auf konkrete Gefahren verweisen und Regeln vermitteln. Gerade bei Teenagern, die reale Gefahren oft nicht sehen und eigene Fähigkeiten überschätzen, ist es wichtig, dass Grenzen eingehalten werden. Dabei sollen Eltern ihre Ängste und Sorgen klar zum Ausdruck bringen. Wichtig: Kinder sollen wissen, dass sie trotz Fehler wertgeschätzt und verstanden werden.
2. Frusttoleranz – ein guter Umgang mit Niederlagen
Kinder stoßen bei ihren Entdeckungen und Versuchen immer wieder an ihre Grenzen. Beispiel Trotzalter: Das Kind will, aber es gelingt ihm (noch) nicht. Wut und Frust sind die natürliche Reaktion. Eltern sollen Kinder dabei unterstützen, mit Frust umzugehen sowie sich mit Niederlagen konstruktiv auseinanderzusetzen.
3. Gelassenheit und Ruhe ausstrahlen
Kinder haben nur dann Vertrauen, wenn sie die Erfahrung machen, dass es für die Eltern kein Drama ist, wenn ihre Versuche scheitern. Eltern sollten ihre Kinder dafür loben, etwas probiert oder gewagt zu haben. Un sie dazu motivieren, es erneut zu versuchen.
4. Dazu anregen, selber Lösungen und Antworten zu finden
Selbstständigkeit kann nur durch Selbstprobieren und Tun entstehen. Dafür braucht es Geduld, Kindern die nötige Zeit zu lassen, etwas alleine zu bewerkstelligen – und zwar im eigenen Tempo – wohl wissend, dass man es selber besser und schneller machen würde. Lob und der Ausdruck, dass man danach stolz auf das Kind ist, steigert den Selbstwert. Abwertungen und ständige Kritik oder Aussagen, dass man es besser selber machen hätte sollen, sind fehl am Platz.
5. Etwas zutrauen bedeutet einander vertrauen
Loslassen geht leichter, wenn man sich der Stärken des Kindes bewusst ist. Hierzu braucht es eine gute Beziehung zum Kind, ein offenes Ohr und ein stetes Interesse für seine Aktivitäten. Nur so kann man wissen, wie das Kind mit Schwierigkeiten umgeht und darauf vertrauen, dass es sich Hilfe holt, wenn es sie braucht. Ein zu starker Schutz des Kindes gibt diesem das Gefühl, etwas nicht selbst zu können.
Selbst ist das Kind
Um Selbstbewusstsein zu entwickeln, braucht es allem voran Selbstwirksamkeit. Was damit gemeint ist? Entwicklungspsychologen sprechen davon, dass das Gefühl der Selbstwirksamkeit einer der wichtigsten Schutzfaktoren im Rahmen einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung sei. Nämlich ein starkes Gefühl, auch schwierige Situationen meistern zu können, vor allem durch die Art, wie man an Herausforderungen herangeht.
Wie man Selbstwirksamkeit lernt? Kinder müssen erlernen und damit selber erleben, dass sie etwas beeinflussen und bewirken können. Und zwar aus dem überzeugten Gefühl heraus, aufgrund eigener Fähigkeiten und eigenen Tuns ein bestimmtes Ziel zu erreichen. So wird es auch leichter, sich etwas zuzutrauen. Nachdem Kinder meist von alleine aus Dinge bewerkstelligen möchten, sollten Eltern sie in ihrem Tun bestärken. Anstatt sie ständig vor schwierigen und unangenehmen Situationen schützen zu wollen, wie das sehr oft bei überbehütenden Eltern der Fall sein kann. Wer die Kinder ständig vor Schmerz und Problemstellungen bewahren will, gibt dem Kind das Gefühl, dass es dazu selbst schlichtweg nicht in der Lage sei. Und falls die kindlichen Versuche tatsächlich scheitern? Shit happens: Eltern sind genau dazu da, um die Kinder aufzufangen, Sicherheit und Trost zu geben und sie weiter zu ermutigen.
Weitere Infos zum Thema Erziehung finden Sie auf www.familiii.at/erziehung
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