Vom Entdecker zum passiven Mitläufer
„Warum ist mein Kind so passiv, zieht sich zurück und zeigt plötzlich weniger Eigeninitiative?“ Diese Frage stellen sich viele besorgte Eltern. Lena Blaschke, Expertin für neurowissenschaftliche Psychologie und intrinsische Motivation, hat sich intensiv mit den Gründen für den Rückgang der Eigeninitiative bei Kindern beschäftigt. Die Ergebnisse sind erschreckend: Ein komplexes Zusammenspiel von Erziehung, schulischem Druck und gesellschaftlichen Erwartungen hemmt die natürliche Neugier und verwandelt einen kleinen Entdecker zum passiven Mitläufer. Doch wie kommt es dazu?
Kinder kommen neugierig und lernfreudig auf die Welt. Sie wollen ihre Umwelt entdecken, sie verstehen und sich selbst in ihr ausdrücken. Doch vieles, was in den ersten fünf, besonders prägenden Jahren im Umgang mit den Kindern geschieht, zerstört diesen natürlichen Explorationsdrang. Eltern, die es gut meinen, aber aus Unwissenheit handeln, korrumpieren oft unbewusst die Entwicklung ihrer Kinder. Dieses Phänomen nennt Lena Blaschke das „liebevolle Scheitern“: Eltern wünschen sich das Beste für ihre Kinder, doch ihre Handlungen führen oft zu den gegenteiligen Ergebnissen.
Zu viel Hilfe – zu wenig Selbstständigkeit
Ein häufiger Fehler ist das Übermaß an Hilfe, das Eltern ihren Kindern anbieten. Ein Kind, das schon in der Lage ist, sich selbst anzuziehen, wird dennoch von den Eltern unterstützt, weil es schneller geht. Doch was den Eltern Zeit spart, nimmt dem Kind wertvolle Erfahrungen. Es lernt nicht, sich selbst zu vertrauen und eigene Fähigkeiten zu entwickeln. Eltern sollten sich bewusst Zeit nehmen, um ihren Kindern die Möglichkeit zu geben, Aufgaben selbst zu erledigen – auch wenn das bedeutet, dass es manchmal länger dauert oder das Chaos überhandnimmt.
Kinder wollen ausprobieren, lernen und ihre eigenen Grenzen testen. Wenn ihnen diese Möglichkeit genommen wird, weil Eltern aus Bequemlichkeit oder Zeitmangel eingreifen, wird das Kind in seiner Entwicklung gebremst. Eltern sollten bei jedem Verbot, das sie aussprechen, daran denken, einen alternativen Handlungsspielraum zu eröffnen. Wenn ein Kind beispielsweise nicht mit Wasser im Wohnzimmer spielen darf, könnte man ihm anbieten, mit Wasser in der Badewanne zu experimentieren. So wird das Bedürfnis des Kindes anerkannt und gleichzeitig in geordnete Bahnen gelenkt.
Misstrauen und Unzulänglichkeit
Jedes „Nein“, das ein Kind hört, vermittelt ihm das Gefühl von Misstrauen oder Unzulänglichkeit. Wenn ein Kind ständig daran gehindert wird, etwas auszuprobieren, weil es „das nicht kann“ oder „es nicht tun sollte“, verliert es die Lust am Entdecken. Das Kind fühlt sich nicht gehört und beginnt, an sich selbst zu zweifeln. Es entwickelt ein negatives Selbstbild und zieht sich zurück. Für Kinder ist es essentiell, ihre Selbstwirksamkeit zu spüren: Das Gefühl, dass sie durch ihr Handeln etwas bewirken können, ist ein wichtiger Baustein für ihre Entwicklung und ihr Selbstbewusstsein.
Eltern sollten verstehen, dass Frustration ein natürlicher und wichtiger Teil des Lernprozesses ist. Kinder müssen lernen, mit Rückschlägen umzugehen und Lösungen für ihre eigenen Probleme zu finden. Wenn Eltern ihnen jede Hürde aus dem Weg räumen, nehmen sie ihnen die Chance, diese wertvollen Erfahrungen zu machen. Die Rolle der Eltern sollte darin bestehen, das Kind bei seiner Erfahrung zu begleiten, es zu ermutigen und zu unterstützen, wenn es das braucht, aber nicht, ihm jede Herausforderung abzunehmen.
Die Gefahr des falschen Lobes
Ein weiteres Problem ist das falsche Loben. Eltern wollen ihre Kinder ermutigen und unterstützen, aber oft tun sie dies auf eine Art, die dem Kind eher schadet. Lob wird häufig mit Bewertung verwechselt. Ein Kind, das stolz ein selbstgemaltes Bild zeigt, hört vielleicht: „Das ist aber ein tolles Bild!“ Dieser Kommentar scheint positiv, doch er bewertet das Ergebnis und nicht den Prozess. Das Kind malt jedoch nicht, um bewertet zu werden, sondern weil es Freude am Schaffen hat. Eine wertschätzende Reaktion wäre: „Danke, dass du mir das Bild gemalt hast! Ich freue mich sehr darüber.“ So fühlt sich das Kind in seinem Tun gesehen und anerkannt, ohne dass das Ergebnis in den Vordergrund gestellt wird.
Übermäßige Kontrolle – der Feind der Selbstständigkeit
Übermäßige Kontrolle und das Verhalten sogenannter „Helikopter-Eltern“ führen dazu, dass Kinder weniger Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten entwickeln. Wenn Eltern ständig über die Schulter schauen und jede Bewegung überwachen, wird dem Kind suggeriert, dass es selbst nichts richtig machen kann. Diese ständige Kontrolle hemmt die Entwicklung von Selbstvertrauen und Eigeninitiative. Kinder müssen die Freiheit haben, eigene Entscheidungen zu treffen und aus ihren Fehlern zu lernen.
Lena Blaschke zeigt Eltern Wege auf, wie sie ihren Kindern mehr Freiräume geben und sie ermutigen können, eigene Erfahrungen zu sammeln. Sie betont, dass Eltern nicht die Aufgabe haben, ihre Kinder vor allem Negativen zu schützen, sondern sie in ihrer Entwicklung zu begleiten. Kinder brauchen Herausforderungen und manchmal auch das Scheitern, um zu wachsen. Eltern können dabei eine wichtige Rolle spielen, indem sie ihren Kindern zeigen, wie man mit Frustrationen umgeht und Probleme selbstständig löst.
Der Weg zur Selbstständigkeit
Eltern, die ihren Kindern Vertrauen schenken und ihnen Raum geben, sich selbst auszuprobieren, legen den Grundstein für starke, selbstbewusste Persönlichkeiten. Indem sie ihren Kindern die Möglichkeit geben, aus ihren eigenen Erfahrungen zu lernen und ihre Selbstwirksamkeit zu spüren, fördern sie deren Eigeninitiative und Selbstvertrauen. Es ist wichtig, Kinder nicht zu bremsen, sondern sie zu ermutigen, ihren eigenen Weg zu gehen – mit all den kleinen und großen Herausforderungen, die das Leben mit sich bringt.
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