Mittelschule – alles Mittelmaß oder was?
Sie punkten oft mit innovativen Konzepten und Schwerpunktsetzungen und bieten damit nicht nur für weniger leistungsstarke Kinder ein attraktives Lernangebot. Auch für diejenigen, die beim Gerangel ums beste Gymnasium nicht mitmachen. Was Mittelschulen können und warum sie im Schnitt besser sind als ihr Ruf.
Vor etwas mehr als zehn Jahren wurde die Hauptschule durch die Neue Mittelschule ersetzt. Laut einer Publikation „10 Jahre Regelschule – die (Neue) Mittelschule“ der Österreichischen Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen (Öfeb) gilt das von der damaligen Bildungsministerin Claudia Schmid vorangetriebene Reformprojekt als gescheitert. Es sei, so steht es in der Abhandlung, im „Großen und Ganzen nicht gelungen“, Ziele wie mehr Chancengerechtigkeit oder individuelle Förderung von Kindern zu erreichen. Kein gutes Zeugnis für die Mittelschulen – und einmal mehr scheint sich das vorherrschenden Bild der Mittelschule als Auffangbecken der Abgehängten und sozial Benachteiligten zu bestätigen.
Was ist dran am schlechten Image?
Tatsächlich haben die sozialen Unterschiede beim Übertritt von der Volksschule in die Sekundarstufe in den vergangenen zehn Jahren stark zugenommen. Schüler:innen mit Migrationshintergrund sind laut Statistik öfter an den Mittelschulen und noch seltener an AHS-Unterstufen zu finden als davor. Vor allem an den Mittelschulen in Wien und den größeren Städten Österreichs gibt es eine deutlich höhere Zahl an Kindern mit nichtdeutscher Erstsprache im Vergleich zu ländlicheren Gebieten. Sind die Sorgen vieler Erziehungsberechtigter hinsichtlich der Mittelschulen als benachteiligte Bildungsstätten angesichts solche Umstände berechtigt? Wir haben bei Bildungspsychologin Christiane Spiel nachgefragt: „Im städtischen Bereich ist es ohne Zweifel so, dass Kinder aus Familien mit sozialen Benachteiligungen – niedriger Bildungsstand der Eltern, Deutsch nicht als Erstsprache, geringes Einkommen bis Armut, schwierige Wohnverhältnisse etc. – viel häufiger in Mittelschulen gehen als in Gymnasien. Kinder mit solchen Lebensverhältnissen haben ein Risiko, das Bildungsminimum nicht zu erreichen. Wenn viele Kinder in der Klasse so ein Risiko haben, erhöht sich dadurch das Risiko für jedes einzelne Kind“. Allerdings müsse man laut Christiane Spiel stets bedenken, dass das öffentliche Bild, das wir von Mittelschulen haben, sehr stark von den Städtischen geprägt sei. Deshalb warnt die Expertin auch vor einem generellen Schlechtreden der Mittelschule: „Es gibt nicht DIE Mittelschule, sondern die Bandbreite ist enorm“. Die Unterschiede hätten großteils mit den Rahmenbedingungen zu tun. So werden in Großstädten – insbesondere in Wien – aufgrund des generellen Zuzugs in die Städte, fast überall die Schüler:innenhöchstzahlen erreicht, und zwar mit zusätzlich hohem Anteil an Kindern, die Deutsch nicht als Erstsprache haben. Die Schüler:innenzahl im ländlichen Bereich hingegen ist oft recht niedrig und alle Kinder haben Deutsch als Erstsprache. „Ein fairer Vergleich zwischen solchen Schulen ist daher nicht möglich“, versichert Spiel.
Ist mein Kind ein Mittelschul-Kind?
Öffentliche Bildungsdebatten, die von Berichten über prekäre Verhältnisse an Mittelschulen geprägt sind und den Gang aufs Gymnasium als idealen Bildungsweg skizzieren, machen die Entscheidung für Eltern, wie es nach der vierten Volksschule weitergehen soll, nicht leichter. Generell setzen AHS voraus, dass die Kinder im Jahreszeugnis der vierten Schulstufe in Deutsch, Lesen und Mathematik keine schlechtere Note als „Gut“ haben. Das Konzept der Mittelschule hingegen sieht vor, dass Kinder ohne Beurteilung des Abschlusszeugnisses der Volksschule genommen und nach individuellem Förderbedarf unterrichtet werden. Seit dem Schuljahr 2020/2021 wird in Mittelschulen bereits ab der sechsten Schulstufe mit einem Notensystem nach zwei Leistungsniveaus – „Standard“ und „Standard AHS“ in den Fächern Deutsch, Mathematik und Lebende Fremdsprache unterschieden. Beim Übertritt ins Gymnasium müssten Eltern laut Ines Berger folgendes im Auge behalten: „Welche Vision habe ich als Elternteil für mein Kind? Geht es um das Wohl meines Kindes oder um meine Erwartungen? Man kann so schwer vorhersagen, ob die AHS passt oder nicht. Es gibt Kinder, die das ganze erste Jahr quasi fehl am Platz sind und später mit Auszeichnung maturieren“, sagt die Familylab-Elternberaterin und ehemalige AHS-Lehrerin. Habe das Kind ständig das Gefühl, um seinen Platz kämpfen zu müssen und könne es seine Noten trotz großer Anstrengungen und vieler Hilfe nur knapp halten bzw. verfehle es die Leistungsziele, sei die AHS laut Berger wahrscheinlich weniger geeignet. Gerade leistungsschwächere Kinder würden laut einer Studie der Humboldt-Universität Berlin davon profitieren, wenn sie in eine Schulform wechseln, die ihren Fähigkeiten besser entspricht. Zum Beispiel wenn ein Kind mit Talenten punktet, die im Gymnasium eher weniger gefragt sind. Weil vielleicht eine künstlerische Begabung vorliegt – oder eine handwerkliche.
Mittelstufe mit viel Spielraum
Viele Mittelschulen machen genau das: Bei den Fähigkeiten und Talenten der Kinder genau hinschauen. Tatsächlich tut sich gerade bei den Mittelschulen oft viel in Sachen Neuerungen – sei es durch innovative Lernkonzepte oder Schwerpunktsetzungen. So gibt es mittlerweile viele Mittelschulen mit MINT-Fokussierung, also mit besonderer Förderung in naturwissenschaftlichen Gegenständen, sowie zahlreiche Sonderformen wie Musik- und Sportmittelschulen. Laut dem Mittelschul-Lehrplan können sich die Schulen zwischen sprachlich-humanistischen, naturwissenschaftlich- mathematischen, ökonomisch-lebenskundlichen sowie musisch-kreativen Zweigen entscheiden. Doris Pfingstner ist Leiterin der Modularen Mittelstufe Aspern, die 2023 den Staatspreis für innovative Schulen in Österreich gewonnen hat. Die Schulleiterin ist bekannt für ihre Vision einer Schule, in der Innovation und Wohlbefinden Hand in Hand gehen, wodurch sich schulische Leistungen sowie das gesamte Schulklima verbessern. Nicht umsonst hat Pfingstner die einstige Brennpunktschule mit einem inhaltlich attraktiven Angebot zum begehrten und innovativen Schulstandort aufgebaut. Pfingstners Erfolgsrezept: „Wir setzen auf die Schulautonomie und reizen sie voll und ganz aus. Viele Mittelschulen wissen nämlich gar nicht, welchen Spielraum sie haben“. So hat die Direktorin der preisgekrönten Schule im 22. Wiener Gemeindebezirk ein zukunftsorientiertes Modulsystem eingeführt, bei dem die Kinder zwischen den Modulen Technik, Tourismus, Wirtschaft sowie Gesundheit und Soziales wählen können. Betriebswirtschafliche Bildung und die Kooperation mit berufsbildenden höheren Schulen und Unternehmen wird an dieser Mittelschule groß geschrieben. Auch dem Lehrkörper hat Doris Pfingstner mit einer neuen Teamstruktur und einer Teacher Academy einen Frisch-Kick verpasst: Seither arbeiten acht bis zehn Kolleg:innen in Jahrgangsteams zusammen und begleiten eine Klasse vier Jahre lang. „Ich bin ein großer Fan von Persönlichkeitsbildung, kleineren Teams und Kleingruppen, weil wir die Kinder so bestmöglich fördern und auf ihre Bedürfnisse eingehen können“, sagt Pfingstner.
Stärkung beruflicher Bildung
Ein Dorn im Auge ist der engagierten Schulleiterin das vielfach negativ gezeichnete Bild von Mittelschulkindern als Schüler:innen „zweiter Klasse“ und dass das Gymnasium in den Medien oft als einziger Erfolgsgarant für den Karriereweg eines Kindes propagiert wird. „Wir übersehen dabei, die enorme Bandbreite der berufsbildenden Schulen in Österreich, zum Beispiel die Tourismusfachschulen oder die sehr erfolgreichen HTLs, die europaweit als schulisches Vorzeigeprojekt in der Berufsbildung gelten“, bekräftigt Pfingstner und beklagt in diesem Kontext auch die frühe Trennung der Kinder nach der vierten Klasse Volksschule. „Ich wäre für einen längeren gemeinsamen Bildungsweg beispielsweise mit einer gemeinsamen Mittelstufe bis zwölf“. Auch Bildungspsychologin Christiane Spiel befürwortet eine längere gemeinsame Schule, worüber hierzulande bekanntlich seit Jahrzehnten emotional, und durch ideologische Haltungen beeinflusst, diskutiert wird: „Ich bin für eine spätere Trennung, wie es in vielen europäischen Ländern der Fall ist (Anm. d. Red.: lediglich Deutschland, Österreich und die Schweiz haben differenzierende Schultypen). Eine gemeinsame Schule müsste jedoch hohe Qualität haben und individuelle Förderung ermöglichen, sonst braucht man sie gar nicht einzuführen“. Den Trend zur Akademisierung als zentralen Weg zur Anhebung von Bildung und damit auch von Wohlstand sieht Spiel durchaus kritisch: „Wichtig wäre es, die hohe Relevanz der beruflichen Bildung für die Berufschancen von Jugendlichen, aber auch für die Gesellschaft insgesamt, sichtbar zu machen, zu fördern und wert zu schätzen“, meint die Bildungsforscherin. Um das Bildungsniveau der Mittelschulen aufzuwerten plädiert Christiane Spiel dafür, in der Lehrpersonen-Ausbildung einen starken Fokus darauf zu legen, dass Lehrpersonen in der Lage sind, zu diagnostizieren, wo Schüler:innen stehen, welche Probleme Kinder fachlich bzw. hinsichtlich Lernmotivation und Selbstvertrauen haben und wie eine Förderung erfolgen soll. Schulleiterin Doris Pfingstner sieht hierbei ebenso noch viel Handlungsbedarf: „In der Ausbildung brauchen wir weniger Akademisierung. Ich bin für eine Verkürzung der Studienzeit und viel mehr Unterrichtspraxis“. In den Mittelschulen steckt jedenfalls viel Potential. Bleibt abzuwarten, wieviel Reformwillen die nächste Regierung im Bildungswesen an den Tag legt.
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