Warum tut der Nikolaus so heimlich?
Wenn keine Blätter mehr an den Bäumen sind, fängt die beste Zeit an. Dann kommen die Süßigkeiten und Geschenke. Erst hab ich Geburtstag, und danach ist zweimal Weihnachten, einmal in der Kita und einmal zu Hause. Zwischen Geburtstag und Weihnachten kommt auch noch der Nikolaus vorbei. Und zwar heute! Die ganze Zeit warte ich schon auf ihn. Getroffen hat ihn noch niemand. Ich versteh nicht, warum er immer so heimlich tut. Ich weiß ja, dass es ihn gibt!
Vielleicht hat er eine dicke Nase mit Pickeln wie unser Nachbar. Der will auch nie, dass man ihn sieht. Wenn ich ihn auf der Straße treffe, dreht er sich jedes Mal weg. Und seine Vorhänge sind dauernd zu. Deshalb habe ich dem Nikolaus einen
Brief geschrieben. Mein Bruder Alex hat mir dabei geholfen.
Lieber Nikolaus! Mir ist egal, dass du eine dicke Nase hast wie unser Nachbar. Ich will, dass du mir Hallo sagst und mich weckst. Du findest mich oben in meinem Zimmer im Bett. Bis gleich! Dein Ben.
Herr Sowa hat auch schon Kribbeln im Bauch. Herr Sowa ist meine Schildkröte. Ich habe ihn gerade erst freigekauft, zum Geburtstag, aus der Zoohandlung. Er ist jetzt schon mein bester Freund. Herr Sowa hat den größten Schuh vor der Tür stehen. Das finde ich richtig, weil er der Kleinste ist. Außerdem teile ich später sowieso alles mit ihm. Nur Mama und Papa haben keinen einzigen Schuh draußen. Obwohl meine Mutter die besten Nikolaus-Stiefel von uns allen hat. Die gehen ihr bis zu den Knien. »Der arme Nikolaus hat schon genug zu tun«, hat sie gesagt. Darum habe ich ihm auch noch eine Tasse Tee gemacht und einen Teller mit Keksen dazugestellt.
Jetzt liege ich im Bett und warte. Beim Warten habe ich noch mehr Gedanken im Kopf als sonst schon. Vielleicht kann der Nikolaus genauso wenig lesen wie ich. Und wenn er doch lesen kann, aber den Brief erst auf dem Nachhauseweg aufmacht? Im Brief steht auch gar nicht, in welchem Zimmer ich genau liege. Vielleicht verläuft sich der Nikolaus zu Alex, und ich steh dumm da. Als im Flur längst kein Licht mehr brennt, bin ich immer noch wach und dreh mich hin und her. Sogar meine Eltern sind schon im Bett.
»Komm, wir schauen kurz mal nach«, flüstere ich Herrn Sowa irgendwann zu und nehme ihn aus seinem Glashaus. Wir schleichen zusammen die Treppe runter und durchs Wohnzimmer. Die Haustür mache ich ganz vorsichtig auf: Alles sieht aus wie vorhin. Auf dem Teller liegen immer noch die vier Kekse neben der Teetasse, der Brief ist zu, und die Schuhe sind leer. Der Nikolaus war zum Glück noch nicht da. Herr Sowa und ich gucken uns an. Zurück ins Bett können wir nicht. Wir müssen hier auf den Nikolaus warten, weil er ja vielleicht nicht den Weg zu unserem Zimmer findet. Ich laufe in die Küche und schiebe einen Stuhl bis zur offenen Haustür. Dann mummle ich mich in die Sofadecke ein und Herrn Sowa in meinen Schal. Draußen ist es ziemlich kalt. Wenn ich der Nikolaus wäre, würde ich so schnell wie möglich zu uns rein wollen. Ich hol mir noch zwei Decken und Herrn Sowa einen zweiten Schal. Dann nehme ich ihn auf meinen Schoß und wir warten. Mit Alex’ Fernrohr suche ich den Garten ab. Aber nirgendwo guckt eine dicke Nase hinter den Baumstämmen hervor. Und am Himmel fliegt nur ein Flugzeug. Den ganzen Abend hab ich das Fernrohr schon bei mir und schaue immer wieder in den Himmel. »Vielleicht kommt der Nikolaus gar nicht mit ’nem Schlitten«, sage ich zu Herrn Sowa. »Und auch nicht von oben, sondern von unten.« Also passe ich jetzt auch noch auf den Gully hinterm Gartentor auf. Aber nichts bewegt sich. Vom Fernrohrgucken wird man ganz schön müde. Und unter meinen drei Decken ist es wärmer als oben in meinem Bett. Obwohl es anfängt zu schneien. Direkt vor uns.
»Ich mach nur kurz mal die Augen zu«, sage ich zu Herrn Sowa. Damit ich gleich wieder besser aufpassen kann. »Wenn sich was bewegt, zwickst du mich, ja?!« Ich halte meinen kleinen Finger direkt vor Herrn Sowas Mund. Dann blinzele ich noch mal rüber zu den Keksen und dem Brief … als ich aufwache, liege ich in meinem Bett! Das kapier ich überhaupt nicht! Herr Sowa hockt neben mir in seinem Glashaus und schläft. »HERR SOWA!«, rufe ich. »WAS IST PASSIERT?! DU SOLLTEST DOCH DIE AUGEN AUFHALTEN!!« Ich rase aus dem Zimmer, die Treppen runter und reiße die Haustür auf: Der Tee ist ausgetrunken, und von den Keksen sind nur Krümel übrig. Der Briefumschlag ist offen, und die Schuhe sind voller Süßigkeiten.
»NIKOLAUS!«, schreie ich und renne raus in den Schnee. »NIKOLAUS?!« Ich wetze einmal ums Haus. Dann glitsche ich mit meinen nackten Füßen wieder rein, direkt in die Küche. Da ist schon Licht, und mein Vater schlürft seinen Kaffee am Tisch. Früher als mein Vater ist nie jemand wach. »PAPA!! Der Nikolaus hat mich nicht geweckt! Dabei stand das doch im Brief!!« Mein Vater trinkt weiter seinen Kaffee, als ob das alles nicht schlimm wäre! »Hm …«, brummt er nur. »Vielleicht hat er ja eine Nachricht für dich auf dem Briefumschlag hinterlassen.« Ich renne wieder vor die Haustür. Es stimmt wirklich! Auf dem Briefumschlag steht hinten was drauf! Schon bin ich wieder in der Küche, und mein Vater muss es mir vorlesen.
Lieber Benjamin, ich wollte Dich nicht wecken, auch wenn Du so lieb auf mich gewartet hast. Ich habe mir erlaubt, Dich wieder in Dein Bett zu tragen. Und ich habe Dir auch einen dicken Nikolaus-Kuss auf Deine Stirn gedrückt. Du bist ein toller Junge. Vielleicht sehen wir uns ja im nächsten Jahr. Jetzt muss ich aber weiter. Vielen Dank für die Kekse und den Tee.
Lecker!
Dein Nikolaus.
Ich fasse mir sofort an die Stirn. Wenigstens ein Kuss, ein echter Nikolaus-Kuss! Trotzdem bin ich richtig wütend. Er sollte mich doch wecken! Wieso tut er es dann nicht? Und über Herrn Sowa ärgere ich mich auch. Weil er einfach eingeschlafen ist, statt mir in den Finger zu beißen. Erst als ich alle Süßigkeiten aus meinem Schuh gegessen habe, werde ich etwas ruhiger. Nächstes Jahr entwischt er mir nicht, beschließe ich und lutsche auf dem letzten Stück vom Schokonikolaus rum. Vielleicht baue ich ihm eine Falle, aus einem Riesenkarton. Dann schau ich mir den Nikolaus ganz genau an. Auch seine dicke Nase, wenn er eine hat. Eines weiß ich jetzt schon. Er kommt wirklich von oben aus dem Himmel, nicht von unten aus dem Gully. Weil er überhaupt keine Fußstapfen in den Schnee gemacht hat!
Diese Geschichte stammt aus dem Buch:
Schöne Weihnachen! Lieblingsgeschichten für Groß und Klein.
Thienemann 2018. 15 Euro
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