Erziehung

Langweilig? Herzlichen Glückwunsch!

Tipps, wie man Langeweile vertreiben kann, gibt es genug. Hier kommt eine ganz andere Empfehlung: Langweilt euch!

Kann das bitte mal jemand erklären? Im Regal stapeln sich die spannendsten Kinderbücher, das Kinderzimmer geht über vor Spielsachen, im Garten warten Trampolin und Sandkiste. Die Sonne scheint, dazu gibt’s eine Schwester, mit der man Uno spielen, Legosteine bauen oder Pferde stehlen könnte. Und das Kind? Es sitzt missmutig im Wohnzimmer und jammert: „Mir ist sooooo langweilig!“ Auf der Liste der Sätze, die Eltern in den Wahnsinn treiben können, steht dieser Satz ganz oben. Sie lassen sich vom unguten Gefühl, das Langeweile mit sich bringt, anstecken. Und halten es schwer aus, wenn ihr Kind von einer Ecke in die andere schlurft, sich zu nichts motivieren kann und schließlich mit der kleinen Schwester einen Streit anzettelt, vor lauter Fadesse. „Du könntest doch mit der neuen Kugelbahn spielen!“, schlagen sie vor. „Bau einen hohen Turm mit deinen Bausteinen!“ Irgendwann sagen sie seufzend: „Na gut, dann such dir was aus. Ich spiel mit dir.“

Zur Langeweile gratulieren

 

Klagt ihr Kind über Langeweile, schlüpfen viele Eltern in die Rolle der Entertainer und sitzen wenig später Playmobilfiguren schiebend am Wohnzimmerboden. Natürlich ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, dass Eltern sich als Spielepartner anbieten, um ihrem Kind durch einen gefühlt ewiglangen Samstagvormittag zu helfen. Was sie aber nicht tun müssen: jeden Anflug von Langeweile sofort zu eliminieren versuchen. Denn: Langeweile ist wichtig. Und in unseren Tagen ohnehin ein selten gewordenes Gut. Die Gelegenheiten sich zu fadisieren sind rar. In die Luft oder beim Autofahren aus dem Fenster schauen, ohne Ziel durchs Haus oder den Garten streifen: Wer macht das schon, wenn er im Nullkommanichts mittels Smartphone in viel interessantere Welten eintauchen kann?

Voraussetzung für kreative Prozesse

 

Der verstorbene dänische Familientherapeut Jesper Juul schlägt eine ungewöhnliche Strategie vor, wenn ein Kind sich über Langeweile beschwert. Anstatt ihr Kind zu unterhalten oder zu einer bestimmten Tätigkeit zu motivieren, könnten Eltern ihm zur Langeweile gratulieren, mit Worten wie diesen: „Herzlichen Glückwunsch, mein Freund! Es interessiert mich zu sehen, was du jetzt tust.“ Eltern drücken damit aus, dass sie ihrem Kind zutrauen, eine Tätigkeit zu finden, die es freut. Schlechtes Gewissen, weil die Erwachsenen kein Unterhaltungsprogramm bieten möchten, sei fehl am Platz. Langeweile, betont Juul und bestätigt damit das, was Wissenschaftler herausgefunden haben, ist eine wichtige Voraussetzung für kreative Prozesse. Unser Gehirn braucht Phasen der Monotonie, um auf neue Ideen zu kommen. Tatsächlich machen Eltern sehr oft diese Erfahrung: Lässt man ein Kind, dem fad ist, in Ruhe, dauert es keine zwanzig Minuten bis es sich eine Beschäftigung gefunden hat. Herausfordernd bleibt: das Quengeln aushalten und sich nicht zum Mitspielen überreden lassen. „Mein Sohn hat einmal, als ihm langweilig war, aus den Verdrahtungen von Sektkorken kleine Ritter gebastelt“, erinnert sich der Grazer Kinderpsychologe Philip Streit. „Andere Kinder beginnen zu malen, bauen Lego oder singen.“ Wichtig, so Streit, sei eine Haltung der Präsenz von Seiten der Eltern. „Kinder sollen spüren, dass ihre Eltern ihnen positiv zugewandt sind, dass sie da sind, wenn sie brauchen und dass sie ihnen auch zumuten, selbst etwas machen zu können.“

Langeweile-Ausdauer-Muskel trainieren

 

„Ich bin ein Fan von Langeweile, weil Weile gut ist, weil es Zeit braucht, um in sich ruhen zu können“, sagt Philip Streit. Genügend Zeit sei eine wichtige Voraussetzung für Achtsamkeit. „Wer Langeweile erlebt, lernt in sich selbst zu gehen und achtsam zu sein für die Dinge des Lebens.“ Kinder, die gelernt haben, mit Phasen der Langeweile umzugehen, werden zu Erwachsenen, die etwas mit sich und ihrer Zeit anzufangen wissen, sagt Philip Streit. „So wie ich gerade: Ich bin am Knie operiert und zu Hause und habe mich, weil mir langweilig war, auf einen Waldspaziergang begeben, auf dem ich viele Kleinigkeiten in der Natur entdeckt habe.“ Eigentlich nehmen sich Kinder von klein auf viel Zeit für ihre Tätigkeiten. Sie besitzen die Fähigkeit, ihre Umgebung mit Hingabe zu beobachten. Die Blumen am Wegrand, die Käfer im Gras, die Arbeit der Müllabfuhr. Es sind die  Erwachsenen, die sie zur Eile antreiben und ihnen vermitteln, dass vermeintliches Nichtstun keinen Wert hat.

Für unverplante Zeit sorgen

 

Die US-amerikanische Psychologin Wendy Mogel spricht vom „boredom tolerance muscle“, dem Langeweile- Ausdauer-Muskel, der in der Kindheit trainiert werden soll. Die Aufgabe der Eltern sei dabei, für genügend freie, unverplante Zeit zu sorgen und zu vermitteln: Es ist nicht schlimm, sich zu langweilen – auch wenn es erst einmal unangenehme Gefühle mit sich bringt. Langeweile ist eine Chance und nichts, was man so schnell wie möglich wieder loswerden muss. Für Eltern kann das bedeuten, Kindern interessante Dinge vorzuenthalten. Nein zu sagen zum Kinderyogakurs oder zur musikalischen Früherziehung. Das Wochenende einmal nicht zu verplanen, kein Museum zu besuchen, nicht ins Hallenbad zu gehen und aufs Kino zu verzichten. Dazu sagt der Kinderpsychologe Philip Streit: „All das ist natürlich gut und schön. Leerlauf ist aber genauso notwendig. Langeweile als Erfahrung ist wichtig, da auch im Leben kein ständiges Programm gegeben ist und Kinder im Empfinden der Langeweile durchaus lernen können, ihre eigenen Stärken zu entwickeln.“

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