Erziehung

Schämt euch ruhig!

Es ist beschämend, seine Schwächen und Ängste zu offenbaren, eine unpopuläre Meinung zu äußern oder für etwas einzustehen, wofür wir kritisiert oder abgewertet werden. Über Scham will kaum jemand reden – dabei kann dieses archaische Gefühl ein wichtiger Kompass sein – nämlich uns nützen und das Zusammenleben stärken.

Die falsche Jeans, der etwas breitere Hintern, nicht am coolen Tisch sitzen, von anderen Kindern am Schulhof herabgewürdigt werden, im Bett versagen, von anderen bloßgestellt oder als Weichei gehänselt werden. Wer kennt es nicht? Wir möchten in den Boden versinken, unser Herz beginnt zu rasen, Schweißperlen sammeln sich auf unserer Stirn und unser Gesicht läuft rot an. Wir werden peinlich berührt und alles gerät außer Kontrolle, obwohl wir unsere eigenen Unzulänglichkeiten hinter der vermeintlich perfekten Fassade verstecken wollten. Es schmerzt, wenn wir spüren, dass andere uns erniedrigen oder abwerten. Allein die Annahme, dass andere schlecht über uns denken könnten („was sollen denn die Leute denken!“), kann uns immer wieder entmutigen und uns davon abhalten, zu unserem Selbstwert zu stehen.

„Ich bin nicht gut genug!“

Bin ich cool, schön, schlank, klug, liebenswert, leistungsfähig? Menschen schämen sich, weil sie beruflich scheitern, weil die Familie nicht dem Ideal entspricht. Das eigene Zuhause nicht so toll ist wie das der Freunde. Die Nachbarskinder einen größeren Garten und coolere Eltern haben. Menschen schämen sich über ihre Herkunft, ihren sozialen Stand oder weil sie krank und hilfsbedürftig sind. Dabei ist unsere moderne Gesellschaft sicher aufgeschlossener und toleranter denn je. Und trotzdem stoßen wir unentwegt auf unzählige Schamgrenzen.

„Wir leben in einer Selbstoptimierungskultur, dahinter steckt das permanente Gefühl von Minderwertigkeit, das Gefühl: Ich bin nicht gut genug“, sagt der Psychotherapeut Andreas Knuf in „Die Zeit“. Insbesondere Perfektionismus und die damit zusammenhängende Scham sei laut dem Experten eine große Last unserer Zeit, weil es ständig darum gehe, wie wir zu sein haben und was wir nicht alles zu tun hätten. „Scham ist nicht produktiv. Sie lähmt“, sagt die renommierte Schamforscherin Brené Brown. „Wer sich schämt, fühlt sich einfach nur schlecht, wertlos und isoliert.“ Insofern unterscheide sich die oftmals auch synonym verwendete Emotion der „Schuld“ von der „Scham.“ So gehe es laut Brown bei der Schuld darum, etwas Schlechtes getan zu haben, während Scham gleichzusetzen sei mit: „Ich bin schlecht.“ Nicht zu verwechseln übrigens mit Verlegenheit, die meist ebenso rasch verfliegt wie das Erröten der Wangen. Und zwar deshalb, „weil wir wissen, dass auch dem Gegenüber etwas vergleichbar Peinliches passieren kann und es uns nicht gleich negativ definiert“, erklärt Brown.

Wer wenig bedeutet, sucht sich einen Schwächeren

Es liegt in der menschlichen Natur, dass wir uns als zugehörig und wertvoll erleben möchten. Empfinden wir Scham, fühlen wir uns abgekoppelt und sehnen uns verzweifelt nach mehr Selbstwertgefühl. Kein Wunder also, dass Scham oft sehr stark mit Aggression, Gewalt oder schikanösem Verhalten gegenüber Schwächeren korreliert. Weil Status ursprünglich stets mit Körperkraft einher ging, bekamen die jeweils Rangniederen einen auf den Deckel. Schon als die Menschen noch in kleineren Horden mit weniger als 500 Leuten lebten, zeichnete sich rasch ab, wer das Sagen hatte – und damit auch die besseren Chancen aufs Überleben.

„Scham als zutiefst soziale Emotion ist gekoppelt an den sozialen Status, der in den archaischen Gruppen über den besten Zugang zu Ressourcen, zu Schutz und zu Fortpflanzungschancen entschied“, sagt Psychiater Martin Bohus gegenüber „Die Zeit“. „Wer wenig Bedeutung hat, sucht oft einen noch Schwächeren“, bringt es Brené Brown auf den Punkt. Nicht umsonst reagieren Männer ihre Scham auch in modernen Familien noch oft an ihren Frauen oder Kindern ab und es kommt zu Gewalteskalationen. Frauen hingegen reagieren eher gegen sich selbst, also etwa durch Selbstverletzungen. Was ist also zu tun, um hier gegenzuteuern?

Solidarität als Schlüssel gegen Stigma und Scham

„Wenn wir unseren Weg aus der Scham heraus und wieder zueinanderfinden wollen, ist Verletzlichkeit der Weg und Mut ist das Licht“, schreibt Brown in ihrem Bestseller „Verletzlichkeit macht stark.“ Es koste eine ordentliche Portion Mut, die Listen beiseitezulegen, die festschreiben, wie wir zu sein haben. Und wir müssten unsere Erfahrungen mit anderen Menschen teilen. Empathie sozusagen, als Gegengift zu Scham. Und Solidarität als Schlüssel gegen Stigma und Scham. Entschämung kann nur stattfinden, wenn etwas ans Licht gebracht wird und man merkt, der andere hat auch ein Problem und ich bin nicht allein. Brené Brown dazu: „Um Verletzlichkeit zuzulassen, müssen wir erst einmal unseren seelischen Panzer knacken.“ Gemeint ist die Fähigkeit und innere Bereitschaft, sich selbst auch in schwierigen Situationen mit einer wohlwollenden, annehmenden und liebevollen Haltung zu begegnen. Keine leichte Sache, zumal wir allzu gerne unsere Freude am realen Leben mit unsinnigen Befürchtungen ersticken.

Und Perfektionismus als eine Art Schutzschild einsetzen, der uns glauben lasse, alles perfekt zu machen und niemals Scham empfinden zu müssen. „Mitgefühl für sich und andere zu entwickeln, die eigene Unvollkommenheit anzunehmen, andere in ihrem Wert bestehen zu lassen und Scham nicht in Aggression zu verlagern ist kulturelle Arbeit“, weiß Martin Bohus. Gegen den kritischen Blick der anderen und die erste innere Schamreaktion könne man nichts tun. Aber wir können beeinflussen, wie sehr wir uns davon beeindrucken lassen.

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