Viele Sprachen, viele Chancen: Von Geburt an mehrsprachig
Mehrsprachigkeit bietet Kindern viele Chancen, erfordert aber großen Einsatz von Eltern und Kindern. Dann nämlich, wenn Kinder die Sprachen nicht nur sprechen, sondern auch lesen und schreiben können sollen.
Die Frage, welche Sprachen ihre Kinder erlernen sollten, stellte sich für Dragana Vojin nie. Die gebürtige Serbin kam als junge Erwachsene nach Österreich, lernte hier Deutsch und bekam drei Kinder, die – selbstverständlich – neben Deutsch auch ihre und die Muttersprache ihres Mannes lernen sollten: Serbisch und Rumänisch. „Das war uns von Beginn an ein bewusstes Anliegen“, erzählt
die dreifache Mutter aus Wien. Mit den Kindern sprach sie von Geburt an Serbisch und brachte ihnen später die kyrillische Schrift bei. Mit dem Papa sprechen die Kinder Rumänisch, außerdem besuchten bzw. besuchen sie einmal pro Woche den rumänischen muttersprachlichen Unterricht. Im Hause Vojin hört man heute ein buntes Sprachengemisch. „Alle können alle Sprachen und benutzen sie. Und auch mir passiert es öfter, dass ich die Sprachen untereinander mische“, erzählt Dragana. Das Phänomen, dass Kinder die Sprachen, in denen sie aufwachsen, miteinander mischen, nennt sich in der Fachsprache Codemixing, sagt die Sprachwissenschaftlerin und Expertin für Mehrsprachigkeit Zwetelina Ortega. „Dabei wird etwa innerhalb eines Satzes oder auch innerhalb eines Wortes in die andere Sprache gewechselt.“
Lustvoller Sprachenmix
Codemixing trete bei jenen Kindern besonders intensiv auf, die beide Sprachen sehr parallel erlernen und werde weniger, sobald ein Kind ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass es mehrere Sprachen spricht. „Es gibt aber auch viele Jugendliche und Erwachsene, die zwischen den Sprachen wechseln. Das ist dann kein Zeichen dafür, dass sie die beiden Sprachen nicht gut können, sondern im Gegenteil: Sie gehen auf lustvoll, auf kompetente Weise mit den Sprachen um“, erklärt Zwetelina Ortega, die mit der LIMU Academy Kindern zwischen 2 und 10 Jahren Deutschkurse anbietet. Die Zahl von Familien, in denen Kinder und Eltern mehr als eine Sprache sprechen, habe in den vergangenen zwei Jahrzehnten zugenommen. „Die Lebensrealität vieler Familien sieht so aus: Es gibt eine, manchmal zwei Familiensprachen und dazu die Umgebungssprache Deutsch.“ Wie die eigene Mehrsprachigkeit bewertet wird, hänge davon ab, wie positiv Interkulturalität und Mehrsprachigkeit im öffentlichen Diskurs wahrgenommen werden, und davon, welches Prestige eine Sprache genießt. „Besonders Sprachen von Menschen, die eingewandert oder geflüchtet sind, haben oft geringeres Prestige als andere“, sagt Ortega. „Das ist schade, weil jede Sprache wertvoll für das Individuum ist und viele Chancen bietet. Beruflich, aber auch hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung.“
Fünf Gedanken zur Mehrsprachigkeit:
1. Sprache hat viel mit Identitätssuche zu tun hat und damit, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Welche Rolle eine Sprache spielt, ändert sich im Laufe eines (mehrsprachigen) Lebens immer wieder.
2. Das Prinzip ‚Eine Person – Eine Sprache‘ bewährt sich in vielen Familien. Das bedeutet: Abgesehen von wenigen Ausnahmen – etwa wenn andere Personen anwesend sind, die die Sprache nicht verstehen – spricht ein Elternteil immer in seiner Erstsprache mit dem Kind.
3. Eine Sprache nicht nur fließend zu sprechen, sondern in ihr auch lesen und schreiben zu können, braucht viel Engagement und bringt erheblichen Mehraufwand für Eltern und Kind mit sich. Besonders gilt das, wenn andere Schriftzeichen oder ein anderes Alphabet im Spiel ist.
4. Kinder, die in den ersten Lebensjahren nur die Familiensprache erlernen, kommen erfahrungsgemäß rasch mit dem Deutschlernen im Kindergarten zurecht. Unter anderem deswegen, weil sie ja von der Umgebungssprache Deutsch von Geburt an trotzdem etwas mitbekommen haben.
5. Sprache ist nicht nur die Gesamtheit von Vokabeln und Grammatik. Über Sprache wird viel an Emotionalität vermittelt.
Mit den Verwandten kommunizieren
Genau das ist es, was Dragana Vojin auch ihren Kindern stets vermittelt hat: „Wenn sie manchmal nicht in den muttersprachlichen Unterricht gehen wollten, habe ich ihnen immer gesagt, was für eine große Bereicherung es ist, so viele Sprachen zu sprechen.“ Über Serbisch und Rumänisch würden die Kinder außerdem viel über die kulturelle Identität ihrer Familie erfahren, ihre Wurzeln besser kennen lernen und – ganz wichtig – mit den Verwandten in den jeweiligen Ländern kommunizieren können. Sorge, dass sie sich im Kindergarten und in der Schule mit Deutsch schwer tun würde, hatte Dragana kaum. „Es ist bei allen mit dem Deutschlernen im Kindergarten recht schnell gegangen. Nur unsere jüngste Tochter brauchte zum Schuleintritt ein bisschen Deutschför- derung. Jetzt mit acht Jahren spricht sie super deutsch.“
Trösten in der eigenen Muttersprache
Eltern sollen mit ihrem Kind prinzipiell immer in ihrer Erstsprache kommunizieren, sagt die Sprachwissenschaftlerin Ortega. „Leider glauben Eltern oft, dass sie mit ihrem Kind deutsch sprechen sollen, weil es das ja in der Schule können muss.“ In der Kommunikation gehe dabei viel verloren, weil man die Feinheiten, die man nur in der Muttersprache kennt, nicht mit transportieren könne. „Schwierige und emotionale Themen lassen sich am besten in der Sprache besprechen, in der man selbst sozialisiert wurde. Ein Kind tröstet man am besten in der Sprache, in der man als Kind selbst getröstet wurde.“ Es sei ein gängiges Phänomen, dass Kinder irgendwann hauptsächlich zur omnipräsenten Umgebungssprache, also zu Deutsch, greifen. Passiv, indem sie wie automatisch auf Deutsch antworten, aber auch aktiv, indem sie sich der Familiensprache verweigern. „Eltern sollen das nicht persönlich nehmen und geduldig bleiben“, rät Ortega. Verstärkter Kontakt zur Sprachcommunity, ein Auslandsaufenthalt und Gespräche darüber, wie wertvoll Mehrsprachigkeit ist, können in solchen Fällen helfen.
Lohnenswerter Aufwand
Dragana Vojin weiß, dass es viel elterliches Engagement benötigt, damit Kinder mehrsprachig aufwachsen und ihre Familiensprachen nicht nur sprechen, sondern auch lesen und schreiben können. Dieser Aufwand lohne sich, ist die Wienerin mit serbischen Wurzeln überzeugt. Genauso wie Zwetelina Ortega. Nur wenn Kinder ein Niveau erreichen, auf dem sie die Sprache nicht nur sprechen, sondern auch lesen und schreiben können, können sie die Sprache auch im Berufsleben vollständig einsetzen. „Man kann ja nicht in seinen Lebenslauf schreiben, dass man auf muttersprachlichem Niveau ungarisch spricht, aber nicht einmal ein E-mail auf Ungarisch verfassen kann.“
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