Page 21 - 200708_Elternheft
P. 21

Es ist beschämend, seine Schwächen und
                                   Ängste zu offenbaren, eine unpopuläre
                                   Meinung zu äußern oder für etwas

                                   einzustehen, wofür wir kritisiert oder

                                   abgewertet werden. Über Scham will kaum
                                   jemand reden – dabei kann dieses archaische
                                   Gefühl ein wichtiger Kompass sein – nämlich

                                   uns nützen und das Zusammenleben stärken.

                                   Text: Daniela Jasch



                                   Die falsche Jeans, der etwas breitere   sozialen Stand oder weil sie krank und
                                   Hintern, nicht am coolen Tisch sitzen,   hilfsbedürftig sind. Dabei ist unsere
                                   von anderen Kindern am Schulhof        moderne Gesellschaft sicher aufge-
                                   herabgewürdigt werden, im Bett versa-
                                                                          schlossener und toleranter denn je. Und
 Schämt                            gen, von anderen bloßgestellt oder als   trotzdem stoßen wir unentwegt auf
                                   Weichei gehänselt werden. Wer kennt
                                                                          unzählige Schamgrenzen.
                                   es nicht? Wir möchten in den Boden
                                                                          „Wir leben in einer Selbstoptimierungs-
                                   versinken, unser Herz beginnt zu rasen,  kultur, dahinter steckt das permanen-
                                                                          te Gefühl von Minderwertigkeit, das
                                   Schweißperlen sammeln sich auf unse-
                                   rer Stirn und unser Gesicht läuft rot an.  Gefühl: Ich bin nicht gut genug“, sagt
                                                                          der Psychotherapeut Andreas Knuf in
                                   Wir werden peinlich berührt und alles
 euch                              gerät außer Kontrolle, obwohl wir unse-  „Die Zeit“. Insbesondere Perfektionis-
                                   re eigenen Unzulänglichkeiten hinter
                                                                          mus und die damit zusammenhängen-
                                   der vermeintlich perfekten Fassade
                                                                          de Scham sei laut dem Experten eine
                                                                          große Last unserer Zeit, weil es ständig
                                   verstecken wollten. Es schmerzt, wenn
                                   wir spüren, dass andere uns erniedri-
                                                                          darum gehe, wie wir zu sein haben
                                   gen oder abwerten. Allein die Annahme,  und was wir nicht alles zu tun hätten.
 ruhig!                            könnten („was sollen denn die Leute    sagt die renommierte Schamforscherin
                                   dass andere schlecht über uns denken
                                                                          „Scham ist nicht produktiv. Sie lähmt“,
                                                                          Brené Brown. „Wer sich schämt, fühlt
                                   denken!“), kann uns immer wieder
                                   entmutigen und uns davon abhalten, zu
                                                                          sich einfach nur schlecht, wertlos und
                                   unserem Selbstwert zu stehen.
                                                                          isoliert.“ Insofern unterscheide sich
                                   „Ich bin nicht gut genug!“             die oftmals auch synonym verwendete
                                                                          Emotion der „Schuld“ von der „Scham.“
                                   Bin ich cool, schön, schlank, klug,    So gehe es laut Brown bei der Schuld
                                   liebenswert, leistungsfähig? Menschen   darum, etwas Schlechtes getan zu
                                   schämen sich, weil sie beruflich schei-  haben, während Scham gleichzusetzen
                                   tern, weil die Familie nicht dem Ideal   sei mit: „Ich bin schlecht.“ Nicht zu
                                                                          verwechseln übrigens mit Verlegenheit,
    Foto: iStock Images            so toll ist wie das der Freunde. Die   die meist ebenso rasch verfliegt wie das
                                   entspricht. Das eigene Zuhause nicht
                                   Nachbarskinder einen größeren Garten
                                                                          Erröten der Wangen. Und zwar deshalb,
                                   und coolere Eltern haben. Menschen
                                                                          über etwas vergleichbar Peinliches
                                   schämen sich über ihre Herkunft, ihren   „weil wir wissen, dass auch dem Gegen-  →

 20  familiii  07 2020                                                                                           21
   16   17   18   19   20   21   22   23   24   25   26