Page 27 - 2004_Elternheft
P. 27

BILDUNG







 „Geld beeinflusst den Schulerfolg – aber nicht

 nur. Auch kulturelle Praktiken und das soziale

 Umfeld des Elternhauses sind relevant!“


 Bildungsforscherin Barbara Herzog-Punzenberger spricht im Interview über die
 Bildungsverlierer und über sinnvolle Maßnahmen für mehr Chancengleichheit!


 Bildungsstudien belegen, dass Bildung in Österreich   prekären Verhältnisse oder erhoffen sich aufgrund eigener
 zum großen Teil vererbt wird. Wie sehen Sie das?  schlechter Erfahrungen nicht viel von der Schule.
 Herzog-Punzenberger: Es ist im internationalen Vergleich
 tatsächlich so, dass bei den Höhergebildeten der Anteil an   Dafür engagieren sich höher Gebildete umso mehr,
 Kindern aus bildungsnahen Familien deutlich größer ist. Die   um das Beste für ihre Kinder herauszuholen.
 Sache müssen wir aber differenziert betrachten: Denn um   Was sagt denn der Run auf die beste Schule über
 überhaupt international zu vergleichen, werden lediglich   uns als Gesellschaft aus?
 Pflichtschul­, mittlere und akademische Abschlüsse berück­  Herzog-Punzenberger: Mit der zunehmenden Individualisie­
 sichtigt. Ein großer Teil an Aufstiegsmöglichkeiten im öster­  rung und dem enormen Wohlstandszuwachs ist auch der An­
 reichischen Bildungssystem hingegen nicht.   spruch an Bildung stark gestiegen. Wenn 50
 Denken Sie an das hierzulande doch breite   Prozent eines Jahrgangs maturieren und ein
 Angebot der Lehre sowie sekundäre Berufs­  Studienabschluss in der Mittelschicht schon
 ausbildungen. Wenn wir über Vererbung von   fast Standard ist, wird es immer schwieriger
 Bildung reden, müssen wir in Zukunft außer­  sich zu unterscheiden. Das erklärt etwa auch
 dem darüber nachdenken, was als Bildungs­  das Wettrennen um die besten Schulen.
 aufstieg bzw. ­abstieg zu werten ist. Ist es ein
 Abstieg, wenn zum Beispiel das Kind eines   Was können wir tun, um mehr Chan-  Gesundheitsversorgung   MUTTER-KIND-PASS-UNTER-
 Jus­Absolventen eine Lehre als IT­Techniker   cengleichheit zu erzielen?     SUCHUNGEN IM ZUSAMMENHANG
 abschließt? Anders gefragt: Ist ein Studium   Herzog-Punzenberger: Wir brauchen mehr   MIT DEM CORONAVIRUS (COVID-19)
 immer noch der höchste, erstrebenswerte   „Armut ist für   Ressourcen für benachteiligte Schulstand­  ist für alle gesichert  Aufgrund der derzeitigen Situation mit dem
 Ausbildungsgrad?  orte: Sozialpädagogische oder  psychologi­                 Coronavirus (COVID-19) gelten folgende
 Kinder sehr   sche Unterstützung etwa, Sozialarbeiter ge­                    besondere Bestimmungen für die Durchfüh-
 Inwiefern ist denn Bildung eine Frage   belastend und   nauso wie Freizeitpädagogen. Für die Lehr­  Die Österreichische Gesundheitskasse hat ein Maßnah-  rung der Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen:
 des Geldes?   beeinflusst die   kräfte braucht es eine Ausbildung, die sich für   menpaket für alle Patientinnen und Patienten geschnürt.  Von der Kürzung des Kinderbetreuungs-
 Herzog-Punzenberger: Materielle Sicherheit   Entwicklung.“  „kompensatorische“ Bildung zuständig fühlt   geldes kann abgesehen werden, wenn die
 beeinflusst freilich die Ressourcen für Bil­  – bezogen auf Kinder mit schwierigeren Start­  Durchführung der Mutter-Kind-Pass Unter-
             ie rasche Ausbreitung des Corona­
 dung. Wesentlich ist aber auch das so ge­  Barbara    bedingungen. Bei den Schulprofilen ist zu   Dvirus in Österreich erfordert unbüro­  1 Monat abgegeben werden, nur bei  suchungen für die Eltern aufgrund der
                                          speziellen Fällen (bei Neueinstellungen)
 nannte kulturelle Kapital, also die Vertraut­  Herzog-Punzenberger  überlegen, inwieweit die vielen Schwerpunkte   kratische Maßnahmen, um die Gesund­  muss eine  direkte  Kommunikation  mit   aktuel len Situation mit dem Coronavirus
 heit und Praktiken der Familie hinsichtlich   Bildungsforscherin und   von Musik bis Sport sinnvoll sind. Untersu­  heitsversorgung der Österreicherinnen   dem Arzt/der Ärztin stattfinden.  nicht möglich bzw. zumutbar ist. Dies stellt
 Professorin an der
 Büchern, Kunst oder Kultur. Und auch das   Universität Innsbruck   chungen haben ergeben, dass Ressourcen   und Österreicher aufrecht zu erhalten.   •  Krankentransporte sind bis auf wei­  einen nicht von den Eltern zu vertretenden
 soziale  Kapital,  etwa  die  Zugehörigkeit  zu   verstärkt den Klassen mit Spezialisierungen   • Für die Dauer der Pandemie können   teres bewilligungsfrei.  Grund gem § 7 Abs 3 Z 1 bzw. § 24c Abs 3 Z 1
                                                                              KBGG dar.
 bestimmten Kreisen, begünstigt den Schul­  zugute kommen und Restklassen das Nachse­  Medikamentenverordnungen auch nach  • Gleiches gilt für Heilbehelfe und Hilfs­
 erfolg. Diese Faktoren sind allerdings nicht als Festlegung   hen haben. Wir brauchen auch demokratischere Schulpro­  telefonischer  Kontaktaufnahme  zwi­  mittel bis zu einem Gesamtausmaß von   Sofern die Frist für die Durchführung der
 zu verstehen. Auch wenn all das nicht gegeben ist, kann es   zesse und Elternkooperationen, um Eltern abzuholen. Was   schen Arzt/Ärztin und PatientIn erfolgen.   1.500 Euro sowie Röntgen und Schnitt­  jeweiligen Untersuchung nach Wegfall der
                                                                              aktuell bedingten besonderen Umstände
 Schul­ erfolg geben. Es ist nur sehr viel anstrengender und   die Schüler betrifft, müssen wir weg vom selektiven Blick,   Die Abholung in der Apotheke erfordert   bilduntersuchungen.  noch offen ist, ist die Untersuchung umge-
 mit sehr viel mehr Hindernissen für die Kinder verbunden.  der bedeutet: wer nicht passt, muss weg. Ich halte die Klas­  nicht mehr unbedingt ein Papierrezept.   •  Arbeitsunfähigkeitsmeldungen (AU)   hend durchzuführen.
 senwiederholung für kontraproduktiv, weil sie Selbstwert­  Die Übermittlung des Rezepts von Arzt/  sind während dieser Phase ebenfalls te­
 Wer sind denn die so genannten Bildungsverlierer?  gefühl und Lernmotivation massiv beeinträchtigen. Ebenso   Ärztin an die Apotheke kann auch auf an­  lefonisch möglich.  Eine Verlängerung der Durchführungszeit-
                                                                              räume nach der Mutter-Kind-Pass-VO ist
         derem Weg erfolgen. Die Medikamente
                                          •  Telemedizinische Krankenbehand-
 Herzog-Punzenberger: Armut ist für Kinder sehr belastend   die Selektion ab zehn versus einer Allgemeinbildung für alle   können in den Apotheken auch an an­  lung  (Skype, Videokonferenz, Telefon)   nicht vorgesehen.
 und hat einen enormen Einfluss auf ihre Potentialentwick­  bis 15. Weiters braucht auch Deutschförderung Rahmen­  dere Personen, sofern sie Namen und die   können soweit sie notwendig sind, wie   Eine verspätete Vorlage der Nachweise der
 lung. Abgesehen davonm besitzen Eltern oft mangels Zuge­  bedingungen, die nicht nur die Sprache, sondern auch die   Foto:  Österreichische Gesundheitskasse (1)  SV­Nummer des Patienten/der Patientin  eine in der Ordination erbrachte Leistung   Untersuchungen ist nicht zulässig, da die
 hörigkeitsgefühlen oder Sprachbarrieren wenig Selbstver­  Zugehörigkeit fördern. Wir brauchen da weit ausgeklügeltere   kennen, abgegeben werden.   abgerechnet werden. Diese Regelung   persönliche Abgabe der Nachweise nicht
 trauen hinsichtlich ihrer eigenen Fähigkeiten, das Kind für   Projekte, als – abgesondert von der Regelklasse – einfach   • Über den Zeitraum der Pandemie fällt   gilt für Ärzte, Hebammen, Psychothera­  erforderlich ist. Die Nachweise können z.B.
 den Schulerfolg richtig zu unterstützen. Eltern aus einfa­  nur monatelang fünf Stunden Deutsch pro Tag in die Kinder   Foto:  privat  zudem die Bewilligungspflicht bei den   peuten und Psychologen.  auch per Post oder als Foto per E-Mail recht-
 chen Verhältnissen schämen sich möglicherweise ob ihrer   reinzupumpen.   meisten Medikamenten.  Weitere Infos und regelmäßige Updates   zeitig erbracht werden.
         • Bei Medikamenten kann der Bedarf für   finden Sie auf  www.gesundheitskasse.at



 26  familiii  04 2020
                                     In Kooperation mit der Österreichischen Gesundheitskasse
   22   23   24   25   26   27   28   29   30   31   32